Neue Erkenntnisse zeigen, dass chirurgische Eingriffe bei Zungenverwachsungen Säuglingen nicht immer beim Stillen helfen
«Untersuchen, abwägen und zweimal nachdenken, bevor zum Skalpell gegriffen wird.» Neue Erkenntnisse zeigen, dass chirurgische Eingriffe bei Zungenverwachsungen Säuglingen nicht immer beim Stillen helfen
In der Schweiz ist das Operieren von Zungenverwachsungen in den letzten zwei Jahrzehnten eine weit verbreitete Lösung geworden, wenn Mütter Schmerzen beim Stillen haben. Diese Praxis ist jedoch umstritten, und viele Ärzte sind der Meinung, dass sie in den meisten Fällen überflüssig ist.
- Weltweit steigt die Zahl der Operationen bei Zungenverwachsung. Eine australische Studie ergab, dass die Operationen bei Zungenverwachsung in dem Land um 3,710 % gestiegen sind[i]. Kanada verzeichnete einen Anstieg um 89 %[ii], die USA um 300 %[iii].
- Neue Diagnosen und Operationen am hinteren Teil der Zunge erhöhen nicht die Effizienz des Stillens.
- Eine neue (noch nicht veröffentlichte) Studie der University of Western Australia zeigt, dass das wahre Problem beim Stillen in der geringen Milchproduktion liegt und nicht an der Zungenverwachsung des Babys.
Baar, Schweiz/Paris, Frankreich – 9. April 2018.
«In älterer Fachliteratur wird ein chirurgischer Eingriff (Frenotomie) als einfache Lösung bei Stillproblemen empfohlen. Seien Sie skeptisch, wenn jemand diesen Eingriff als einfach bezeichnet. Nichts ist einfach», sagte Associate Prof. Donna Geddes am 23. März auf dem 13. Internationalen Still- und Laktationssymposium in Paris. Zungenverwachsungen werden immer häufiger diagnostiziert, um eine niedrige Milchentnahme und mangelnde Gewichtszunahme sowie Schmerzen der Mutter während des Stillens zu erklären. Die Zahl der Frenotomie-Eingriffe, bei denen die Zunge per Schnitt oder Laser vom Mundboden gelöst wird, steigt ebenso rasant an wie die Diagnosen. Statt zu verbesserten Stillraten können Frenotomien jedoch zu vorzeitigem Abstillen führen. Einer neuen Studie aus Australien zufolge ist der wahre Grund für Probleme beim Stillen oft nicht die Zungenverwachsung. Vielmehr liegt es an der niedrigen Milchproduktion der Mutter.
Mit der «einfachen» chirurgischen Lösung macht man es sich zu leicht
Wie kommt es, dass Säuglinge einem chirurgischen Eingriff wegen Zungenverwachsung unterzogen werden? Es beginnt mit besorgten Müttern, die aufgrund von Brustschmerzen durch das Stillen Kliniken aufsuchen. Das Klinikpersonal fragt die Mütter, wie oft ihre Babys gestillt werden, und prüft, ob die Säuglinge ausreichend Gewicht zunehmen. Legt der Säugling normal an der Brust an? Ist das Baby unruhig oder quengelig? Leidet die Mutter an Mastitis (Brustinfektion), wahrscheinlich weil das Baby die Brust nicht entleeren kann?
Wenn davon ausgegangen wird, dass der Säugling eine Zungenverwachsung hat (wie ein verkürztes Frenulum - das Bändchen zwischen Zunge und Mundboden), dann erscheint eine «einfache» Frenotomie oft als schnelle und unkomplizierte Lösung für einige oder alle diese Symptome, auch wenn es dafür viele andere Ursachen geben kann.
«Weil wir jetzt einen Befund auf Zungenverwachsungen stellen können, diagnostizieren wir diese immer und überall, und die Zahl der Frenotomien steigt rasant an», erklärt Associate Prof. Donna Geddes, Leiterin der Hartmann Human Lactation Research Group an der University of Western Australia (EWA). «Leider verbessern sich die Stillraten durch diese operativen Eingriffe nicht. Ganz im Gegenteil. In unserer letzten Studie an der UWA wurde bei einer Bestandsaufnahme nach vier Monaten festgestellt, dass viele Mütter, deren Babys einer Frenotomie unterzogen worden waren, unerwartet früh abgestillt hatten.»
Spitalaufenthalte von Säuglingen aufgrund von Komplikationen nach dem chirurgischen Eingriff nehmen zu
Babys werden nach einer Operation der Zungenverwachsung nicht nur weniger gestillt. Einige müssen aufgrund schwerwiegender Blutungen und Infektionen sogar ins Spital. Einige Säuglinge müssen drei, vier oder sogar fünf Operationen über sich ergehen lassen, weil das Stillen sich nicht verbessert hat, weil Vernarbungen aufgetreten sind oder es notwendig ist, das Bändchen wieder anzunähen, wenn der Schnitt zu gross war. Der Dental Council von Neuseeland untersucht die steigende Zahl von Spitalaufenthalten von Säuglingen aufgrund von Komplikationen nach Frenotomien.[iv]
Geddes zeigte mehrere Fotos von diamantenförmigen Rillen, die sich tief in die Mundmuskeln vieler Babys einschneiden und das Ergebnis von Versuchen sind, Verwachsungen des hinteren Teils der Zunge chirurgisch zu beheben. «Man muss schon sehr suchen, um Verwachsungen des hinteren Teils der Zunge zu finden, » meint Geddes, «das ist keine einfache Diagnose.»
Keine evidenzbasierte, umfassende Definition der Zungenverwachsung
Hier liegt der erste Grund für die Zunahme chirurgischer Eingriffe: In den letzten zehn Jahren wurden bei Babys vermehrt Zungenverwachsungen diagnostiziert und behandelt – eine Erkrankung, für die es keine einheitliche umfassende Definition und keine evidenzbasierte chirurgische Behandlung gibt.
Bei der Vorderzunge ist eine Verwachsung leicht auszumachen: eine herzförmige Zunge und/oder eine Verwachsung mit dem Mundboden. Die meisten Babys mit einer Verwachsung der Vorderzunge, die von einem Kinderchirurgen sorgfältig beschnitten wird, zeigen während des Stillens normalisierte Zungenbewegungen. Im Ergebnis fliesst die Milch nach dem chirurgischen Eingriff gleichmässig und vollständig und das Stillen verbessert sich, solange bei der Mutter kein Problem mit der Milchproduktion vorliegt.
Keine Vorteile für Babys, aber Mütter fühlen sich sicherer
Leider profitieren Babys mit Verwachsungen des hinteren Teils der Zunge nicht im gleichen Masse. Nach der Operation verändern sich die Zungenbewegungen dieser Säuglinge kaum und insgesamt ist keine Verbesserung bei der Art zu erkennen, wie sie Milch aus den Brüsten ihrer Mütter saugen. Darüber hinaus treten vermehrt Blutungen, Schmerzen und Infektionen auf. Wegen Schmerzen verweigern einige Babys sogar das Stillen an der Brust oder das Trinken aus einer Flasche. Warum werden so viele Säuglinge diesem Eingriff unterzogen, wenn es so wenige Hinweise auf positive Effekte gibt?
Laut Geddes zeigt die Studie, dass «Mütter an eine Verbesserung glauben, obwohl in Untersuchungen nichts auf Verbesserungen hindeutet.» Ein wesentlicher Grund dafür ist Geddes zufolge, dass die Mütter das Stillen nach der Operation als weniger schmerzhaft empfinden. Dabei handele es sich um eine subjektive Einschätzung, die mit Hilfe von Fragebögen ermittelt werde, die nicht zwischen unterschiedlichen Arten von Brustschmerzen unterscheiden. Es müssen daher alle Gründe für den Schmerz und entsprechende Lösungen untersucht werden. In anderen Worten: Die beliebte Diagnose einer Zungenverwachsung und der chirurgische Eingriff haben möglicherweise einen mächtigen Placeboeffekt bei Müttern ausgelöst, die irgendeine Art von Schmerzen beim Stillen verspüren.
Neue Studie der UWA zeigt, dass der wahre Grund für eine niedrige Milchentnahme in einer geringen Milchproduktion der Mutter liegt
Besorgt über die wachsende Zahl an Babys, die einer Zungenverwachsung-Operation unterzogen werden, ohne dass sich die Stillraten erhöhen, führte Geddes eine Studie durch, um herauszufinden, was genau bei Mutter und Baby vor und nach dem Eingriff vor sich ging. In der bis heute umfassendsten Studie zur Zungenverwachsung wurden die Schmerzen von Müttern mit Hilfe von drei unterschiedlichen Fragebögen sowie die Milchproduktion bei der Mutter untersucht. Ausserdem wurden der Druck im Mund des Babys während des Stillens und die Atemmuster des Babys gemessen sowie über Ultraschall erfasst, wie die Brust auf die Zungen- und Mundbewegungen des Babys reagiert.
«Die Ergebnisse waren nicht schön», sagt Geddes. «Während die Mütter weniger Schmerzen beim Stillen angaben, nachdem ihre Babys einer Operation am hinteren Teil der Zunge unterzogen wurden, wurde ein Einzelfaktor hinter der schlechten Stillleistung offensichtlich: die geringe Milchproduktion bei der Mutter.» Zum ersten Mal verglich Geddes die Milchaufnahme der Babys und die Milchproduktion bei den Müttern vor und nach dem chirurgischen Eingriff an der Zungenverwachsung. Die Ergebnisse waren fast identisch. Die Mütter von Babys, die nicht genug Milch bekamen, hatten eine wahrscheinlich intrinsisch geringe Milchproduktion.
«Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Milchproduktion bei der Mutter durch die Operation der Zungenverwachsung verändert. Wenn das Baby keine Milch aus der Brust entnehmen kann, ist die erste Massnahme, um die Milchproduktion zu verbessern, eine frühe Intervention mit elektrischen Pumpen zur Stimulierung der Brust und das häufige Abpumpen von Milch, bis sich eine normale Milchproduktion einstellt.» Die wenigen Säuglinge, die mehr Milch aus der Brust bekommen konnten, hatten Mütter mit einer bereits guten Milchproduktion.
Mut zum Überdenken einer beliebten klinischen Praxis
«Wir müssen den Mut haben zuzugeben, dass wir unser Vorgehen überdenken müssen», sagt Geddes. «Eine Hebamme sagte vor Kurzem einer jungen Mutter zwei Stunden nach der Geburt, dass ihr Baby eine Operation der Zungenverwachsung benötige.» Eines unserer Teammitglieder bot an, die Mutter und das Baby zu untersuchen. Die Tests ergaben vollkommen normale Zungenbewegungen, eine normale Milchproduktion und eine normale Milchentnahme, ohne dass die Mutter Schmerzen verspürte. Die Mutter ging mit ihrem gesunden Baby nach Hause und schrieb uns einen mehrseitigen Brief, in dem sie uns dafür dankte, dass wir sie durch wissenschaftliche Evidenz beruhigen konnten und ihr Baby vor einem unnötigen Eingriff bewahrt haben.»
Über Medela
Das 1961 gegründete Unternehmen Medela mit Sitz in der Schweiz investiert in Grundlagenforschung in Zusammenarbeit mit führenden Wissenschaftlern, Fachspezialisten und Universitäten und nutzt die Forschungsergebnisse für Bildungsarbeit und die Entwicklung seiner Stillprodukte und -lösungen. Erfahren Sie mehr auf www.medela.com.
Weitere Informationen:
- Biografie und wissenschaftlicher Abstract von Associate Prof. Donna Geddes
- Livestream-Aufzeichnung der Pressekonferenz des Symposiums vom 22. März
- Highlights und Bildmaterial des Symposiums 2018
- Ab 16. April erhältlich: Videointerviews mit den Rednern des Symposiums
Literaturhinweise
[i] Frenotomy for tongue-tie in Australian children, 2006-2016: an increasing problem. Kapoor V, Douglas PS, Hill PS, Walsh LJ, Tennant M. Med J Aust. 2018 Feb 5;208(2):88-89
[ii] CMAJ Open. 2016 Jan 26;4(1):E33-40. doi: 10.9778/cmajo.20150063. eCollection 2016 Jan-Mar. Temporal trends in ankyloglossia and frenotomy in British Columbia, Canada, 2004-2013: a population-based study.
Joseph KS1, Kinniburgh B1, Metcalfe A1, Razaz N1, Sabr Y1, Lisonkova S1.
[iii] Ankyloglossia and Lingual Frenotomy: National Trends in Inpatient Diagnosis and Management in the United States, 1997-2012. Walsh J, Links A, Boss E, Tunkel D.
[iv] http://www.dcnz.org.nz/resources-and-publications/publications/newsletters/view/26?article=8